"Das ist Russisches Roulett!" rutschte es vor drei Jahren einem deutschen Strahlenforscher raus, als er gefragt wurde, mit welchem Risiko man Wildpilze im bayrischen Wald essen könne und was die aufgenommene Strahlendosis im schlimmsten Fall bewirken wurde. Die Folgen von Tschernobyl für den Menschen sind auch fünf Jahre nach der Katastrophe schwer abzuschätzen. Die Wirkung auf den Körper kann, laut Experten, unterschiedlich ausfallen.
Es gibt zwei Typen von Strahlenschäden. Die eine Art betraf die Feuerwehrmänner und Helfer, die in der Nähe des brennenden Reaktors in Tschernobyl hauptsächlich mit Hubschraubern arbeiteten – aber auch Menschen aus den Dörfern in der Umgebung. Sie waren einer hohen Strahlendosis ausgesetzt.
Der amerikanische Arzt Dr. Robert Gale hat im Krankenhaus Nummer 6 in Moskau Dutzende Tschernobyl-Fälle operiert: "Schwere Gewebeschädigungen sind die Folge. Die Strahlenkrankheit bricht innerhalb weniger Tage aus. Symptome sind Übelkeit und Erbrechen, dann Schwindelgefühle, Kopfschmerzen und Fieber. Später kommen noch Magen- und Darmstörungen, innere Blutungen und Haarausfall dazu."
Je nach Intensität der Bestrahlung sterben Millionen von Zellen innerhalb von Stunden oder Tagen ab. Ist zuviel vom Gewebe und den Organen betroffen, geht der Mensch daran zu Grunde. Der Kampf zwischen Reparaturmechanismen des Körpers und zellzerstörenden Nukliden (radioaktiven Teilchen) kann aber auch Monate dauern.
Besonders schwierig ist es, die strahlenkranken Patienten vor sonst harmlosen Infektionen wie Schnupfen oder Grippe zu schützen, da die Abwehrkräfte und das Immunsystem stark geschwächt sind. Viele Opfer konnten nach Tschernobyl nur in sterilen Kunststoffzelten am Leben gehalten werden.
Prof. Dr. Tibor Szepesi, Arzt für Strahlentherapie im Wiener AKH: "Wir haben 321 Patienten, die starker Strahlung ausgesetzt waren, untersucht und kamen zu folgendem Ergebnis: Die gleiche Dosis ruft bei verschiedenen Patienten- unterschiedliche Reaktionen hervor. Es kann sein, dass ein Patient an einer Strahlendosis stirbt, die bei einem zweiten nur leichte Schäden hervorruft. Dabei kommt es unter anderem darauf an, in welchem gesundheitlichen Zustand die Person zum Zeitpunkt des Unfalls war, ob sie im Stress oder nervös war, ob sie gerade schlief oder arbeitete."
Dr. Peter Weish, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, war vor Jahren im Atomforschungszentrum im niederösterreichischen Seibersdorf tätig. Er erklärt die Wirkungsweise kleiner Strahlenmengen auf den Menschen: "Man kann atomare Strahlung mit einem Hagel von winzigen Geschossen vergleichen. Diese Geschosse durchdringen die Zellen und zerschießen dabei lebenswichtige Bausteine, wie die Chromosomen. Die Zelle stirbt dabei oft ab. Wenn nicht zu viele Zellen betroffen sind, hat das keine großen Folgen. Wenn die Zelle jedoch nicht abstirbt, gibt sie bei der Vermehrung falsche oder unvollständige Informationen an ihre Tochterzellen weiter."
Die Folge sind Krebstumore oder sogar Missbildungen bei Embryos. Bis so ein Zellschaden wirklich zum Tragen kommt, kann es aber Jahre dauern – es sind kleine Zeitbomben im menschlichen Körper.
Dr. Weish: "Für mich ist die genaue Festlegung von Grenzwerten für Lebensmittel eine Augenauswischerei. Die meisten Konsumenten glauben, dass Milch, Obst und Gemüse jetzt wieder ungefährlich sind, nur weil die durchschnittlichen Messwerte unter eine festgelegte Zahl gesunken sind. Jede Dosis ist gefährlich! Und man sollte besonders gesundheitsbewussten Menschen die Möglichkeit geben, sich selbst über die Strahlenwerte dessen zu informieren, was sie jeden Tag essen."
Was kann man tun, um sich bei einem Atomunfall vor Strahlung zu schützen?
"Es gibt da einige Tipps, die jeder kennen sollte", erklärt Dr. Weish: "Die Wohnung mit Klebestreifen abdichten und sich einen Mundschutz machen. Selbst ein nasses Tuch hilft. Mit diesen beiden Maßnahmen verhindert man, zumindest teilweise, dass radioaktiver Staub in die Lunge kommt. Es wäre gut, sich regelmäßig den Wetterbericht anzuhören, um jeden Kontakt mit Niederschlägen zu vermeiden."
"Häufiges Waschen und Kleiderwechseln ist wichtig. Günstig ist auch, sich ein Strahlenmessgerät zu besorgen. Dann hat man die Möglichkeit, sich über die Belastung in der Umgebung zu informieren. Allgemeine Messzahlen sind in der Regel nur Mittelwerte und können deshalb nichts darüber aussagen, wie stark zum Beispiel der eigene Garten betroffen ist."
"Leider wird zu schnell die Gefahr vergessen, die von Lebensmitteln ausgeht. Bei einem Atomunfall kehren sich nämlich alle Werte um: Frisches ist schlecht, Konserven sind gut. Freiland-Eier sind schlecht, Eier aus Legebatterien gut. Heimische Früchte sind schlecht, Früchte aus Südafrika gut. Und so weiter."
Jodtabletten – die "Anti-Atompillen"! Die Meinung ist weit verbreitet, dass man sich durch Einnahme Von Jodtabletten vor Strahlung schützen kann. Dr Weish: "Jodtabletten bieten nur einen Teilschutz. Sie bewahren die jodsammelnde Schilddrüse davor, bei einem Unfall gefährliches, radioaktives Jod einzulagern."
Jodtabletten gibt es in jeder Apotheke rezeptfrei zu kaufen. Sollte sich irgendwo im Nahbereich Österreichs ein schwerer Atomunfall ereignen, wird die Empfehlung, wann, in welcher Menge und wie lange Jodtabletten eingenommen werden sollen, in Rundfunk und Fernsehen rechtzeitig von der Gesundheitsbehörde bekannt gegeben.
Wie reagiert der menschliche Körper auf radioaktive Strahlung?
- GEHIRN – Starke Bestrahlung schädigt die hochempfindlichen Zellen des Gehirns. Als Spätschäden treten Schwachsinn und andere psychische Erkrankungen auf. Schwächere Strahlendosen: Haarausfall und Augenschäden.
- SCHILDDRÜSE – Das Organ, das als erstes auf die Strahlung reagiert. Radioaktives Jod wird zu 100 Prozent vom Körper aufgenommen. Spätschäden: Krebs
- LUNGE – Sie wird beim Einatmen von radioaktivem Staub belastet, der sich in den Luftwegen ablagert. Spätschäden: Krebs
- BRUST – Auch Brustkrebs kann durch Strahlung ausgelöst werden. Allerdings erst nach 10 bis 20 Jahren.
- LEBER UND NIEREN – Radioaktives Cäsium führt im Spätstadium zu Leber- und Nierenkrebs.
- MAGEN UND DARM – Hohe Strahlendosen zerstören Magen- und Darmwände. Bei akuten Strahlenschäden kommt es zu Übelkeit und Erbrechen. Später setzen innere Blutungen ein.
- KEIMDRUSEN – Radioaktivität führt zu Veränderungen des Erbmaterials. Die Folge sind Fehl- und Missgeburten.
- KNOCHEN – Genauso sensibel wie die Schilddrüse auf Jod, reagieren die Knochen auf Strontium. Die Nuklide speichern sich im Knochengewebe und schädigen das Knochenmark das für die Blutbildung wichtig ist.
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