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Tschernobyl – Eine 12-teilige Serie zum 5. Jahrestag der Atomkatastrophe

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Atomare Störfälle

Die Schweißnähte sind im Laufe vieler Jahre brüchig und spröde geworden. Das hätte im Kernkraftwerk von Bohunice 1985 beinahe zu einer Katastrophe geführt.



Kühlturm eines WWER1000-Atomkraftwerks im tschechischen Temelin mit Greenpeace-Protest
Picture by T. Micke

Ist Kernenergie wirklich so sauber, wie manche Befürworter behaupten? Ist ein Atomkraftwerk im Normalbetrieb unbedenklich? Jeder Reaktor setzt permanent radioaktive Strahlung in seine unmittelbare Umgebung frei. Einige von ihnen, wie der Typ WWER-440, von dem vier Stück in Bohunice verwendet werden, sind aber tatsächlich gefährlich wie Zeitbomben.

Das Kernkraftwerk Bohunice hat eine lange, unheilvolle Geschichte hinter sich. 1958 begann die kommunistische Regierung unter dem damaligen Staatspräsidenten Antonin Novotny mit dem Bau des "A1" – ein Atomreaktor der tschechoslowakischen "Skoda"-Werke. Laut Internationaler Atomenergie Organisation (IAEA) brauchte man zur Fertigstellung neun Jahre – viel Zeit für ein Minikraftwerk mit 103 Megawatt Nettoleistung!

In Betrieb war der A1 für nicht einmal sechseinhalb Jahre. Er musste "aus technischen Gründen" zugesperrt werden. Zwei schwere Unfälle hatten dazu geführt:

Am 5. Jänner 1976 trat hochradioaktives Kohlendioxid in den Reaktorraum aus. Zwei Arbeiter starben. Sie hatten sich nicht mehr retten können, weil die Notausgänge versperrt waren. Gras und Feldfrüchte waren jahrelang verseucht.

Ein Jahr später, am 24. Februar, montierten Arbeiter neue Brennelemente in den Reaktor. Weil Verpackungsmaterial im Druckbehälter vergessen wurde, überhitzten sich die Brennstäbe. Es kam zu einer Kernschmelze, die zur Folge hatte, dass vier Billionen Becquerel radioaktive Strahlung mit Wasserdampf nach außen gelangten. An einigen Stellen des Flusses Dudváh wurde damals eine Strahlendosis gemessen, so hoch wie in Tschernobyl drei Tage nach dem Unfall. Was die Bevölkerung in der Umgebung damals an Strahlung abbekommen hat, war nach offizieller Darstellung "harmlos".

Der Reaktor und die Brennstäbe wurden so sehr beschädigt, dass der A1 1979 stillgelegt werden musste. Bis heute liegen in der Atomruine, die neben den acht Kühltürmen von Bohunice steht, hochradioaktive Brennstoffreste, die wegen der starken Korrosion und der Gefahr des Zerbrechens nicht manipuliert werden dürfen. Aus dem undichten Gebäude tritt weiterhin Strahlung aus. Das Vorhaben, den A1 fachgerecht abzureißen, schiebt die Regierung seit Jahren auf.


1974 begann die Tschechoslowakei mit dem Bau zweier "V1"-Reaktoren. 1976 folgten zwei weitere verbesserte Modelle – "V2" genannt. Die vier Blöcke (Typ WWER 440) sind heute in Betrieb.

Die Techniker gingen bei dem "V1" von der Fehlannahme aus, dass im Primärkreislauf kein Unfall stattfinden kann. Daher besitzt der "V1" auch kein "Containment" – eine drucksichere Schutzhülle. Einem Überdruck durch radioaktiven Dampf, der durch einen Leitungsbruch austritt, würde also das Kraftwerk nicht standhalten.

Die deutsche Firma "Siemens/KWU", welche Atomkraftwerke in der ganzen Welt baut, erklärte in einer Expertenstudie an das CSFR-Wirtschaftsministerium, dass das gesamte elektronische Sicherungs- und Steuersystem gefährlich sei und dringend ausgewechselt werden müsse.

Dies bestätigen Berichte der tschechoslowakischen Atomkommission von 1989 und zwei Unfälle zu Beginn des Jahres 1991. Am 20. Mai und am 2. Juli 1989 beschädigte ein Kurzschluss die Isolation wichtiger Stromkabel. Daraufhin fiel eine der Wasserpumpen aus. Schwerwiegende Folgen gab es nicht, da das Personal schnell handelte. Aber selbst die CS-Kommission stufte diese "Panne" als "bedeutend für die Kernsicherheit" des Reaktors ein.

In den Berichten der CS-Atomkommission wird auch die Undichtheit der Dampferzeuger bemängelt. Immer wieder trat dort in den vergangenen Jahren trotz Reparaturarbeiten Radioaktivität aus. Diese Schwäche ist allen WWER-440 Reaktoren – ob neu oder alt – gemeinsam.

Überaltert und unsicher ist auch der Reaktordruckbehälter. Wie bei den meisten älteren Reaktoren sind die Schweißnähte in Kernnähe im Laufe der Jahre durch Neutronenstrahlung und Verunreinigungen brüchig und empfindlich gegenüber Temperaturschwankungen geworden. Dies hätte laut dem Physiker Prof. Dr. Manfred Heindler, Vorsitzender der österreichischen Atomkommission in Bohunice, 1985 beinahe zur Katastrophe geführt.

Durch einen Fehler in der Schaltzentrale geriet kühles Wasser in den extrem heißen Reaktorkern. Die spröden Schweißnähte waren durch den plötzlichen Temperaturschock dem Bersten nahe. Die Techniker konnten ein Zerreißen des stählernen Druckbehälters gerade noch verhindern. Dr. Heindler: "Das kann jederzeit noch einmal passieren, und die Schweißnähte werden von Jahr zu Jahr brüchiger!"

Wir sollten uns in Zukunft mehr Gedanken machen, woher der Strom aus unserer Steckdose stammt
T. Micke

Anfang dieses Jahres kam es in den Atomkraftwerken Bohunice und Dukovany (ebenfalls WWER-440) durch elektrische Defekte in Stromverteiler und Schaltsystem zu Bränden. Die zuständigen CSFR-Behörden verständigten in beiden Fällen die österreichische Regierung erst rund 24 Stunden später. Ihr Argument: Es sei keine Strahlung ausgetreten. Nur dann sieht das beiderseitige "Atomabkommen" zwischen der CSFR und Österreich eine Benachrichtigung der Bevölkerung vor – aber auch das nicht zwingend.

So heißt es in dem "Abkommen": "Der Inhalt der von der anderen Vertragspartei... erhaltenen Informationen kann jede Vertragspartei zur Informierung der Öffentlichkeit verwenden, soweit sie die andere Vertragspartei nicht als vertraulich erklärt."

"Greenpeace"-Rechtsanwalt Dr. Josef Unterweger: "Abgesehen davon, dass dieser Artikel gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, ist in dem ganzen Abkommen keine Rede von Sanktionen, für den Fall, dass es nicht eingehalten wird. Keiner der beiden Staaten ist also gebunden, die 'Bestimmungen' auch zu befolgen."

Die österreichische Regierung hat nach den beiden Vorfällen Anfang dieses Jahres Misstrauen gegenüber der Tschechoslowakei in bezug auf das "Atomabkommen" geäußert. Dennoch wurde nichts unternommen, um den "Gummiparagraphen", wie Umweltaktivisten ihn nennen, zu verbessern.


< Lesen Sie in Teil XI dieser Serie: Im Schatten der Kühltürme

© Eine Reportage von T. Micke (30-04-91) – Kontakt