Die Schatzkammer in der Wiener Hofburg: Scharen von Touristen werden hier in den Sommermonaten durchgeführt. Goldene Reichsäpfel, Szepter, Kronen, fein geschliffene Juwelen, ein diamantbesetzter Säbel. Eine Pracht, dass einem die Augen übergehen – und nach fast einer Stunde Führung auch schon beinahe wieder zufallen vor lauter Jahreszahlen und Herrschernamen.
In Raum 11 strahlt die edelsteinbesetzte Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches im Scheinwerferglanz einer deutschen Reisegruppe entgegen. "Und jetzt sind wir beim interessantesten und zugleich wertvollsten Objekt...", holt der Führer aus. Und erzählt, was er über die Krone und ihre Geschichte weiß. Dann deutet er noch kurz auf eine Vitrine in der Ecke des Raums, wo eine unscheinbare Speerspitze aus Eisen liegt: "Und das hier ist die Heilige Lanze, auch Schicksalsspeer genannt. Im Mittelalter hat man geglaubt, Jesus sei damit am Kreuz durchbohrt worden. Es wird gesagt, dass später auch Nägel vom Kreuz Christi eingeschmiedet worden sind..."
Zehn Sekunden später ist die von so viel geballter Geschichte abgestumpfte Gruppe schon in Raum 12, wo ein angeblicher Zahn Johannes des Täufers doch noch das echte Interesse eines pensionierten Dentisten aus Bielefeld weckt.
Eine Heilige Lanze? Nägel vom Kreuz Jesu? Und das in Wien?
"Lancea et clavus domini" steht auf Lateinisch auf dem dünnen Goldblech, das vor etwa 650 Jahren über die Klinge gesteckt wurde: "Lanze und Nagel des Herrn". Und auf einer kaiserlichen Inventarsliste aus dem Mittelalter ist sie sogar als der "sper gotes" angeführt.
Was ist nun dran an dem unscheinbaren Ausstellungsstück? Alles Legende, oder gehörte der Speer wirklich jenem Soldaten Longinus, der damit circa im Jahr 29 den Tod Jesu überprüfte, sodass sie auch mit dessen Blut getränkt gewesen sein muss?
"Wir wissen, dass diese Lanze mehr als 1000 Jahre lang, etwa seit dem 9. Jahrhundert, das mächtigste Herrschaftssymbol des Heiligen Römischen Reiches war", erklärt Dr. Helmut Trnek, Direktor der Wiener Kunst- und Schatzkammer. "Ein Herrscher, der den sogenannten Schicksalsspeer besaß, galt als unbesiegbar. Er galt als das sichtbare Zeichen, dass seine Macht von Gott gegeben, dass er der Stellvertreter Christi war. Zigtausende Gläubige pilgerten zwischen 14. und 16. Jahrhundert nach Prag und Nürnberg, um sie zu sehen. Napoleon wollte sie besitzen, Hitler ließ sie zusammen mit anderen Kunstschätzen 1938 von Wien zurück nach Nürnberg bringen."
Dr. Trnek: "Was wir aber auch von Untersuchungen wissen, ist, dass diese Lanze nicht jene des Soldaten Longinus ist, sondern aus dem 8. Jahrhundert stammt. Das erkennt man schon an der Flügellanzen-Form und an der Schmiedetechnik."
Prof. Manfred Schreiner, Ordinarius der Wiener Akademie der bildenden Künste, untersucht mit seinem Team derzeit mit Hilfe moderner Röntgenfluoreszenz-Analysen, ob tatsächlich in dem in die Lanze eingebundenen, etwa zehn Zentimeter langen Metallstift, wie die Legende sagt, Teile eines Kreuznagels Jesu eingeschmiedet worden sein könnten: "Mit dieser neuen Methode kann man sehen, welche anderen Elemente außer Eisen in der Lanze enthalten sind und ob bestimmte Teile des Speers unter anderen chemischen Bedingungen hergestellt wurden."
Ein wissenschaftliches Puzzlespiel, das die wahre Geschichte der Lanze vermutlich auch nie ganz aufklären wird, was aber dem Kult um den "Speer Gottes" keinen Abbruch tut. Dr. Trnek: "Weil wir regelmäßig mit Anfragen diverser religiöser Sekten konfrontiert werden, die in unserer Speerspitze die echte Lanze des Soldaten Longinus sehen wollen, habe ich für diese Leute extra einen englischen Text verfasst, der die Fakten klarstellt. Aber die lassen sich nicht wirklich beirren. Vor ein paar Monaten war sogar ein englisches Fernsehteam da mit einem ,Experten' der die Lanze allen Ernstes auf Blutspuren von Jesus untersucht hat."
Hobby-Mystiker in den USA dichten sich dafür im Internet Geschichten zusammen, die Hollywood problemlos Stoff für einen vierten Teil der Indiana-Jones-Trilogie liefern würden: Demnach soll Hitler die Lanze als überirdischen Kraftspender während des Zweiten Weltkriegs persönlich in seinen Besitz gebracht haben, um damit doch noch die Weltherrschaft an sich zu reißen...
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