Eine ganze Bucht hat Keiko an der Hafeneinfahrt zur Insel Heimaey, wenige Kilometer vor der Südküste Islands, für sich. Im Sommer grasen Schafe an den Steilhängen über dem Natur-Aquarium und Millionen bunte Papageientaucher brüten in den Klippen der Vulkaninsel. Jetzt, im Winter, sind die Tage zwar sehr kurz und aufgewirbelte Wassertropfen gefrieren an den Felsen oft binnen Minuten zu Eis, aber dafür sind die Sonnenuntergänge malerisch, und wenn das kühle, schattenreiche Tageslicht einem Sternenhimmel weicht, dann flackert fast jede Nacht ein Polarlicht über den Horizont.
Keiko, der seit seiner Kindheit an Menschen gewöhnt und in Gefangenschaft aufgewachsen ist, könnte hier in seiner atlantischen Luxusresidenz glücklich sein. Jeder andere Pensionist, dem frostiges Meerwasser und kalter Fisch zum Frühstück nichts ausmachen, wäre es wahrscheinlich. Nur kann der 24 Jahre alte Orca leider nicht sagen, was er wirklich will.
Sicher, wenn Tierpfleger Stephen Claussen, der Keiko seit zwanzig Jahren kennt, auf die schwarzgelbe Schwimmplattform steigt und den alten Zirkuswal mit einem Kabeljau-Filet in der Hand fragt, ob es ihm gut geht, dann bringt Keiko ein frenetisches Kopfnicken zustande, dass das Wasser nach allen Seiten spritzt. Und auf ein Handzeichen springt der neun Tonnen schwere Koloss mit der Leichtigkeit eines Delphins durch die Luft, wackelt mit der Schwanzflosse und zieht wie ein ferngesteuerter Torpedo Achterschleifen durch die Bucht. Aber was sagt das schon aus über das Seelenleben eines routinierten Schauspielers, dessen Familie zu den klügsten des Planeten zählt.
Im Alter von zwei Jahren hat man Keiko aus den selben Gewässern gefischt, in denen er heute wieder seine Runden dreht. Nach 13 kläglichen Jahren in diversen Aqua-Shows in Kanada und Mexiko wurde er von Hollywood zum Dreh des Zweiteilers "Free Willy" engagiert, um nach weiteren Showjahren in Mexiko abgemagert, mit Hautkrankheiten und Atemproblemen von der "Keiko-Foundation" gerettet zu werden.
Damals rüttelte das US-Magazin "Life" mit einer Bildreportage über die Qual des Wals die tierliebende Öffentlichkeit wach, amerikanische Kinder opferten ihre Sparschweine, um Keiko jenes Hollywood-Happy End zu ermöglichen, das er am Ende seiner Filmkarriere für die Kameras um einen Eimer Fisch vorexerzieren durfte: den Sprung in die Freiheit.
22 Millionen US-Dollar – man lasse sich die Summe auch nach der Euro-Einführung einmal durch den Kopf gehen – hat das Projekt "Free Keiko" bis heute gekostet. Eine Summe, die – bei aller Tierliebe – ein wenig am Sinn der Sache zweifeln lässt. Keiko wurde via Jumbojet ausgeflogen, erst in ein Rehabilitationszentrum, dann in sein neues, altes Zuhause vor Island.
Seit 7. Jänner 1996 kümmert sich nun ein sechsköpfiges internationales Team von Tauchern, Biologen und Tierpflegern täglich um den Meeressäuger. Und vergangenen Sommer unternahm man mit Hubschrauberbegleitung Ausflüge aufs offene Meer, um Keiko wieder mit seinen Artgenossen zusammenzuführen. Vergeblich. Am Ende folgte Keiko dem kleinen Fischtrawler wieder wie ein treuer Hund in seine mit Netzen abgezäunte Bucht zurück: Entweder hat der Hollywood-Wal zu viele Starallüren für die einfach lebenden Island-Orcas und fühlt sich in Menschenhand einfach wohler, oder der "fremde, ältere Herr" passt einfach nicht in den bekanntermaßen engen Familienverband der Rudeltiere.
Und wenn man Keiko einfach sich selbst überlassen würde, um die Spendenmillionen für andere notleidende Menschen und Tiere zu nützen? Stephen Claussen winkt ab: "Wir sind schon froh, dass Keiko jetzt lebende Fische frisst, anfangs hat er sich ja unheimlich davor geekelt. Und dann würde er wohl irgendwann in den Schiffsschrauben der Fischereiflotten enden. Diese Gefahren hat ihm keiner beigebracht." – Da speziell nach dem 11. September 2001 Spenden für den Wal knapp geworden sind, denkt man nun wieder darüber nach, ob Keiko nicht als "Botschafter des Meeres" in einem Schau-Aquarium bei Reykjavik sein eigen täglich Brot verdienen sollte...
Man kann Keikos Geschichte leider drehen wie man will, es bleibt immer ein übler Beigeschmack. Denn ob sein kompliziertes, filmreifes Leben im Nachspann nun den Untertitel "Lebenslanger Freund des Menschen" verdient oder eher doch "Lebenslänglich für einen Menschenfreund", das weiß wohl inzwischen nicht einmal mehr Keiko selbst.
Anmerkung der Nachlese-Redaktion: Keiko starb fast zwei Jahre nach erscheinen dieses Artikels im Dezember 2003 vor der Küste Islands an einer Lungenentzündung. Wir halten aber an diesem Artikel fest, weil er an Aktualität in Sachen Tierschutz nichts verliert.
|